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Donnerstag, 10.09.2015

Meine ersten Möbel waren die Kinder

Hans-Georg Rennert und Frau Röder

Zu Gast beim Erzählcafé im SprengelHaus.

Schöne und spannende Geschichten von alten Zeiten, erzählt von den Großeltern an langen, kalten Winterabenden. Fasziniert lauschende Enkelkinder tauchen ein in eine andere, fremde Welt. Dieses Bild, immer noch als Idealvorstellung fest verankert in unseren Köpfen, hat heute Seltenheitswert. Wie es früher einmal war, erfahren viele nicht mehr von ihren Verwandten, sondern durch die Medien. Diese haben, so scheint es, in den letzten Jahren das Erzählen von Geschichten und somit auch von Geschichte übernommen. Mitten in der allgemeinen Kommunikationsflaute zeigt sich jedoch ein gegenläufiger Trend. Immer öfter finden sich interessierte Menschen in Gesprächsrunden zusammen, in sogenannten Salons und Erzählcafés. Auch im Sprengelkiez gibt es seit mehr als zwei Jahren diese institutionalisierte Form des Erzählens. Hans-Georg Rennert, Vorstandsmitglied des Betreibervereins des SprengelHauses, ist der Initiator des Erzählcafés im Sprengelkiez. Mehrmals im Jahr lädt er Leute aus dem Kiez ein, Geschichten aus dem Kiez und ihrem Leben zu erzählen.

Heute ist Frau Röder, eine Nachbarin aus der Willdenowstraße, zu Gast.

Frau Röder kam im Sommer 1941 in Görlitz, der „schönsten Stadt Deutschlands“, wie sie selbst sagt, zur Welt. Sie hat zwei ältere Brüder, ihre Mutter stammt ursprünglich aus Polen, ihr Vater aus einer ehemals angesehenen und wohlhabenden Görlitzer Familie. Ihre Eltern heirateten 1936 und lebten gemeinsam in Görlitz, bis ihr Vater 1942 dienstlich, so wurde ihr zumindest erzählt, nach Berlin versetzt wurde. Er kehrte auch nach dem Krieg nicht mehr nach Görlitz zurück und ihre Eltern wurden 1953 geschieden. Eine echte Bindung zu ihrem Vater konnte sie daher nie aufbauen.

Im Februar 1945 musste ihre Mutter mit den drei Kindern in die Nähe von Hof flüchten. An den genauen Zeitpunkt der Rückkehr erinnert sie sich nicht mehr, auch ihre älteren Brüder können darüber nichts sagen. Auch an vieles andere aus ihrer Kindheit erinnert sie sich nur noch bruchstückhaft, viele Fragen wurden nie gestellt oder blieben bis heute unbeantwortet- symptomatisch für diese Zeit.

Kurz nach dem Krieg erkrankte Frau Röders Mutter an Typhus, Frau Röder an Diphterie. Das war alles nicht einfach, besonders für die alleinerziehende Mutter. Durch die neuen Grenzen brach der Kontakt zur Familie der Mutter ab und wurde auch erst 1967 wieder aufgenommen. Auch die Familie von Frau Röders Vater vermied den Kontakt nach dem Wegzug des Vaters. Die Mutter musste nun die Familie ernähren und Arbeit finden. Zunächst arbeitete sie für eine Heimarbeitsfirma und nähte Korsagen, Korsetts und Ähnliches. Zusätzlich tauschte sie – wie damals üblich – verbliebene Habseligkeiten der Familie (Tischwäsche, Besteck etc.) gegen Lebensmittel ein. Auch ging sie mit den Kindern zum Ähren lesen auf die Felder.

Ihr Vater war nie Soldat, kehrte jedoch nach dem Krieg auch nicht nach Görlitz zurück. Über den Verlust der Väter wurde nicht gesprochen, weder innerhalb noch außerhalb der Familien. Viele teilten dieses Schicksal, es war nichts Ungewöhnliches und wurde daher nicht thematisiert. Als Kinder konnten sie nicht ermessen, was Krieg eigentlich bedeutet.

Eingeschult wurde Frau Röder 1947 und besuchte acht Jahre die Melanchthon-Schule in Görlitz. Sie war – nach eigener Aussage – eine mittelmäßige Schülerin und musste wie alle in der ehemaligen DDR ab der 5. Klasse Russisch lernen, was ihr keine großen Schwierigkeiten bereitete. Am meisten interessiert hat sie jedoch das Fach Deutsch, Literatur war ihr „großes Interessensgebiet“.

1955, im Alter von 14 Jahren, beendete sie die Schule und fing eine Ausbildung als Verkäuferin in einer Bäckerei an. Nach Abschluss der zweijährigen Ausbildung wechselte sie zu einer großen Lotterie (Sächsische Klassenlotterie, Toto und Lotto). Dort arbeitete sie bis 1961.

1959 wurde ihr Sohn Andreas geboren. Da war sie gerade 18 Jahre alt und wohnte noch zu Hause bei ihrer Mutter, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Andreas war das erste Enkelkind und der Liebling ihrer Mutter. Sie sagt: „Meine ersten Möbel waren die Kinder.“

Andreas, mittlerweile leider schon lange verstorben, war zunächst in der Tageskrippe, da sie zu dieser Zeit berufstätig und alleinerziehend war. Er war jedoch ständig krank und auf Anraten des Kinderarztes nahm sie ihn aus der Gruppe und betreute ihn zusammen mit ihrer Mutter zu Hause.

1961 nahm sie eine Stelle bei der Deutschen Reichsbahn an. Ihre Mutter war dort ebenfalls als Reinigungskraft beschäftigt. Beide arbeiteten abwechselnd im Schichtdienst, sodass immer eine von beiden zuhause bei Andreas war. Auch wenn es für ihre Mutter sehr schwer gewesen ist, war es, was das Kind betrifft, eine gute Entscheidung.

Bis 1964 reinigte Frau Röder im Schichtdienst Wagen. Dann erhielt sie die Möglichkeit zu einer einjährigen Sekretärinnen-Weiterbildung im Ministerium für Verkehrswesen in der Krausenstraße in Berlin. Andreas blieb bei ihrer Mutter in Görlitz. Sie war zum ersten Mal in der Hauptstadt der DDR und wohnte für ein Jahr in Karlshorst. Im ersten Jahr ging sie zur Schule in der Hausburgstraße in Ost-Berlin, nahe der S-Bahn-Station „Zentralviehhof“ (heute S-Bahnhof Storkower Straße). Im zweiten Halbjahr kam dann die praktische Arbeit im Ministerium hinzu.

Kurz vor ihrer Prüfung sprach man sie auf ihren Vater, der in West-Berlin lebte, an. Ihre Prüfung durfte sie zwar ablegen, die Weiterarbeit im Ministerium wurde ihr jedoch verwehrt. Man überließ ihr die Wahl ihres Arbeitsortes und sie entschied sich für Dresden. Ihr ältester Bruder wohnte in der Nähe und Dresden war auch nicht allzu weit von Görlitz entfernt.

Von der Reichsbahndirektion wurde ihr auf Anfrage eine Wohnung zugeteilt. Neubau, Erstbezug, Leningrader Straße 5, Wohnung 106. Dort wohnte sie bis zu ihrer Ausreise 1984.

1965 kam ihr zweiter Sohn Sven zur Welt. Bis 1968 arbeitete sie für die Reichsbahndirektion in einem Schreibbüro. 1968 wechselte sie dann ins Rechenzentrum. Zunächst als Assistentin des Direktors, dann des Abteilungsleiters. Sie konnte nur ein Jahr bleiben, da sie keine Genossin war, bekam dann aber noch mal eine Weiterbildung.

Diese beendete sie 1974. Als „Facharbeiterin für Datenverarbeitung“ bekam sie ein höheres Gehalt und Prämienlohn. Andreas hatte zu dieser Zeit bereits eine abgeschlossene Ausbildung als Elektromonteur, Sven ging noch zur Schule. Später lernte er Bäcker gelernt und wollte schon als Kind auf keinen Fall zu den Pionieren.

Ledige Mütter bzw. alleinerziehende Mütter waren keine Seltenheit in der DDR. Unterstützt wurden sie hauptsächlich durch den Freundeskreis, Kollegen, Nachbarn und die Familie.

Man durfte jedoch nicht mit allen über alles reden. Freundschaften zerbrachen sehr schnell, wenn man über die „falschen“ Themen redete, sagt Frau Röder. Einen gestellten Ausreiseantrag beispielsweise durfte man nur mit der besten Freundin besprechen, da es sich sonst nachteilig auswirken konnte.

„Ich habe ihn nicht auf die Welt gebracht, damit er schießen lernt.“

Sven war die treibende Kraft für einen Ausreiseantrag. Er wollte sich nicht bevormunden lassen. Sven wurde von Mitschülern in einem symbolischen Akt aus der FDJ ausgeschlossen, obwohl er niemals Mitglied war. Er wollte – im Gegensatz zu seinem Bruder Andreas – auf keinen Fall zur Nationalen Volksarmee. 1981 beantragten Frau Röder und Sven die Ausreise nach West-Berlin, wo es bis zur Wende keinen Wehrdienst gab. Alle sechs Wochen wurden sie von nun an aufgefordert, den Antrag zurückzuziehen.

Nach der Scheidung der Eltern von Frau Röder in den Fünfzigerjahren wurde das mittlere Kind, Frau Röders Bruder Manfred, dem Vater zugesprochen und lebte seitdem in West-Berlin. Das war dann auch der „Aufhänger“ für den Ausreiseantrag. Sie sagt, man konnte natürlich nicht so etwas wie ‚Uns gefällt die Politik nicht’ reinschreiben. Frau Röder wollte sich nicht ständig rechtfertigen und musste daher etwas nehmen, was glaubhaft erschien und man nicht verändern konnte.

Da ihre Vorgesetzten „Geheimnisverrat“ fürchteten, war sie 1983 gezwungen, sich eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Sie reparierte von nun an in einer kleinen Elektrofirma Geräte.

Drei Jahre mussten sie auf die Ausreise warten. Am 01. März 1984 reisten Frau Röder und Sven mit vier Koffern und einer Gitarre in die Bundesrepublik Deutschland aus. Sie kamen am Bahnhof Zoo an und ihr Bruder holte sie ab. Von Donnerstag bis Montag wohnten sie bei ihm. Dann brachte er die beiden zur Registrierung ins Notaufnahmelager Marienfelde. Dies war unumgänglich und unter anderem notwendig für die Beantragung von Sozialhilfe.

Nach einem vierwöchigen Aufenthalt im Lager, arbeitete Sven zunächst wieder als Bäcker. Von 1985 bis 1988 erlernte er dann seinen Wunschberuf Krankenpfleger im St. Gertrauden Krankenhaus. In der DDR war dies nicht möglich, da die Pflege von Kranken als Frauendomäne galt. Beide wohnten zu dieser Zeit in Lichterfelde und Frau Röder fand 1985 eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der Caritas Sozialstation in Steglitz. Über die Kirchengemeinde St. Joseph fand sie dann 1988 eine Wohnung im Männerfokolar in der Willdenowstraße, in der sie heute noch wohnt.

„Noch nie habe ich so lange in einer Stadt gelebt, in die ich eigentlich 1965 nie wollte“, sagt Frau Röder lachend und erinnert sich an ihre Zeit in Karlshorst. „Ich hab da mal auf dem Bahnhof gestanden und auf die S-Bahn gewartet, so entsinne ich mich, und habe gedacht, hier würdest du niemals wohnen wollen. Geschweige denn mit deinem Kind. Das ist ja furchtbar, was hier los ist.“

Sie betont immer wieder, dass sie nicht aus materiellen Gründen ausgereist sei. Sie machte „aus ihrer negativen Einstellung“ zum DDR-Staat „keinen Hehl“, wie sie später in ihrer Stasiakte lesen konnte. „Bei uns war niemals Thema ‚uns soll es im Westen besser gehen’. Das war überhaupt nicht unser Ansinnen. […] Wir wollten uns nicht bevormunden lassen.[…] Wir sind für uns selbst verantwortlich und das wollten wir leben und nicht, was uns gesagt wird. Das war der entscheidende Punkt. Ob es uns hier besser geht oder nicht, das wussten wir vorher nicht.“

Frau Röder ist eine gläubige Frau und ihr Glaube war ihr eine wichtige Stütze in schwierigen Lebenssituationen. Viele Jahre arbeitete sie ehrenamtlich für das Maximilian-Kolbe-Werk. Sie betreute Gruppen ehemaliger KZ- und Ghettohäftlinge aus der Ukraine während ihres Aufenthaltes in Deutschland und besuchte kranke und hilfsbedürftige Opfer des Nationalsozialismus in Polen.

Das Leben – eine Summe von Geschichten.

 

 

 

Nächster Termin Erzählcafé:

02. November mit dem Thema „Sanierung am Sparrplatz“

Bitte beachten Sie Ankündigungen am SprengelHaus!

Kontakt: Hans-Georg Rennert

Tel: 030 450 285 24

E-Mail: info@gisev.de

 

Text und Fotos: Annette Wolter

 
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